Casuistik 6

Vorgeschichte

Ein 62 Jahre alter Mann kommt mit heftigem Erbrechen und profusem Schweißausbruch seit etwa 3 Stunden morgens früh in die Notambulanz. Er habe am Vorabend Muscheln in einem Restaurant gegessen. Ansonsten verspürt er seit Beginn des Erbrechens einen leichten thorakalen Druck im unteren Bereich des Sternums.

In der Vorgeschichte wird eine arterielle Hypertonie angegeben, die aber mit einem ACE-Hemmer und einem milden Diuretikum gut eingestellt sei. Weitere Vorerkrankungen habe er nicht, er raucht 20 Zigaretten täglich.

Vor ca. 6 Wochen sei er beim Hausarzt zu einer Vorsorgeuntersuchung gewesen, bei der aber nichts Besonderes, vor allem keine Diabetes festgestellt worden sei.

Der Patient ist kaltschweißig und wirkt krank. Während Anamnese und körperlicher Untersuchung muß er 2mal erbrechen.

Seine Herzfrequenz beträgt 96/min, der Blutdruck 80/50 mm Hg. Über Herz und Lungen sind keine Auffälligkeiten festzustellen, über dem Abdomen hört man verstärkte Darmgeräusche.

Das bei Aufnahme abgeleitete EKG sieht man in Abb. 1.

Im Routine-Labor fanden sich 12.700 Leukos/ul bei ansonsten unauffälligem Blutbild. Kreatinin und Kalium waren normal, der Troponin I-Schnelltest war jedoch positiv und das Troponin T auf 159 ug/l erhöht.

Daraufhin wurde eine weitere Untersuchung durchgeführt.

Verlauf

Es wurde ein erneutes EKG geschrieben, nun aber mit den nach V7, V8 und V9 erweiterten Brustwandableitungen. Diese zeigten den Befund in Abb. 2 mit eindeutigen ST-Strecken-Hebungen in. Abl. V7 - V9.

Es wurde daraufhin ein akuter streng posteriorer Infarkt (strictly posterior infarction) diagnostiziert und die Herzkatheterabteilung alarmiert.

Bei der Coronarographie fand sich der Verschluß des peripheren und hier posterolateral verlaufenden R. circumflexus. Der Verschluß wurde ad hoc rekanalisiert und mit einem Stent versorgt.

Hintergrund

Reine strenge posteriore Infarkte („strictly posterior infarction“) treten relativ selten auf. Sie entstehen, je nach koronarem Versorgungstyp durch hochgradige Stenosen bzw. Verschlüsse des R. circumflexus oder der rechten Koronararterie.

Je nachdem, an welcher Stelle die jeweilige Arterie verschlossen ist sind u.U. auch bedeutsame Nebenäste (z.B. Posterolateraläste des R. circumflexus) betroffen, die das Infarkt-EKG derartig beeinflussen, daß man den begleitenden strengen Posterolateralinfarkt leicht übersieht. So sieht man z.B. bei einem Verschluß des R. circumflexus die ST-Hebungen in den posterolateralen Brustwandableitungen V4 - V6 oder beim Verschluß einer kräftigen rechten Koronararterie die Hebungen über der Hinterwand (Abl. II, III).

Dies ist in der Regel nicht dramatisch, weil man bei solchen Infarkt-EKGs in der Regel unverzüglich koronarographiert, die Ursache des Infarktes findet und sofort mittels PCI behandelt. Die Beteiligung der posterioren Wand behandelt man dabei direkt mit.

Anders ist es aber, wenn es sich um einen reinen posterioren Infarkt handelt. Dies ist besonders dann, wie in unserem Fall, wenn ein Patient nicht die „typischen“ heftigen Beschwerden eines Myokardinfarktes aufweist, man ein EKG schreibt und hier keine ST-Hebungen sieht. Vielleicht sieht man lediglich deszendierende ST-Strecken-Senkungen, interpretiert diese als Ausdruck eine Ischämie in der Vorderwand (oder bei positivem Troponin-Nachweis einen NSTEMI), behandelt in üblicher Weise mit Nitraten, ß-Blocker und Analgetika und veranlaßt eine Koronarographie im Intervall. Findet man dann „im Intervall“ den Verschluß des RCx bzw. der RCA ist es für eine Rettung des betroffenen Myokardareals oft zu spät.

Daher hier einige kurze Hinweise zur Interpretation des EKG:

Strenge posteriore Infarkte können leicht übersehen werden, weil sie in den 12 Ableitungen eines Standard-EKG keine oder nur geringe ST-Elevationen verursachen. Auch kommt es im weiteren späten Verlauf nicht zur Ausbildung typischer Q-Zacken wie beispielsweise nach Vorderwandinfarkten. Dennoch ist das EKG eine Schlüsseluntersuchung.

Es wird üblicherweise mit den 12 Standard-Ableitungen geschrieben. In diesen Ableitungen sieht man die typischen Anzeichen für einen frischen Infarkt (ST-Hebungen) in den folgenden Ableitungen:

Abb. 3

Der strenge posteriore Infarkt betrifft ein meist kleines Areal der hinteren unteren Wand des linken Ventrikels (Abb. 3).

Beim streng posterioren Infarkt sind solche ST-Hebungen jedoch nicht zu sehen, man sieht in den Ableitungen (V1,) V2 und V3 oft „nur“ deszendierende ST-Senkungen und denkt dann daran, daß eine Ischämie im Bereich der Vorderwand besteht.

Findet man in Abl. V1 und evtl. auch V2 zusätzlich hohe, breite R-Zacken sollte man unbedingt an einen streng posterioren Infarkt denken und zusätzlich die linksposterioren Ableitungen V7 - V9 ableiten. Diese Ableitungen liegen wie folgt:

Abb. 4

V7: Dieselbe Höhe wie V4 in der linken mittleren Axillarlinie 5. ICR

V8: Dieselbe Höhe wie V4 über der Mitte des linken Schulterblattes

V9: Dieselbe Höhe wie V4 links paravertebral.

In diesen Ableitungen gelten ST-Hebungen von 0.05 mV bereits als pathologisch.

Wenn man es also mit einem Patienten zu tun hat, der typische oder atypische Beschwerden hat, dessen EKG keine ST-Strecken-Hebungen zeigt, dessen Laborwerte (Troponin, CK) aber eine myokardiale Schädigung vermuten lassen sollte man zunächst die nach links erweiterten Brustwandableitungen V7 - V9 schreiben und hier nach ST-Hebungen suchen.

Finden sich hier die beschriebenen Veränderungen (Hebungen ≥0.05 mV) sollte die Herzkatheterabteilung umgehend alarmiert werden.

Sollte man solche Veränderungen aber nicht finden kann man weiter vorgehen, indem man 1 - 2 h später ein erneutes EKG mit den nach links erweiterten Ableitungen schreibt. In nicht wenigen Fällen zeigt das serielle EKG dann die typischen Veränderungen des posterioren STEMI.